Moderne Urerfahrung
zu Sylvia Staude: "Das ist ihre Rache", in Frankfurter Rundschau Sa/So 6./7.6.2020
Der Untertitel von Meena Kandasamys Roman "Schläge" ist bedeutsam: "Ein Porträt der Autorin als junge Ehefrau". Sylvia Staude kommentiert: "Er spielt an auf Dylan Thomas' 'Porträt des Künstlers als junger Hund'". Das mag sein. Unerwähnt bleibt ein Roman, auf den bereits Thomas sich bezog: "Porträt des Künstlers als junger Mann" von James Joyce. Warum fehlt der Hinweis?
Wichtigere Frage: Warum ist er wichtig?
Joyces erster Roman ist eine autobiografische Abrechnung mit der katholischen Internatserziehung, die der Autor durchlaufen hat. Der Hauptteil des Buchs schildert in aller Ausführlichkeit seelische, aber auch körperliche Quälereien, wie sie in der religiösen Erziehung über Jahrhunderte an der Tagesordnung waren. Dem entspricht das Martyrium Kandasamys unter einem linksideologisch überbauten Machismo aus unseren Tagen. Die literarischen Schilderungen erhalten durch die Joyce-Folie ein zusätzliches Gewicht, kulturelle Relevanz über ein persönliches Einzelerleben hinaus. Ähnliches galt schon für Dylan Thomas' oben erwähnten Erzählband.
Bemerkenswert an dem Joyce-Roman ist aber noch Weiteres. Mit diesem Buch, und nicht etwa erst mit "Ulysses", setzt an einem Punkt Europas das ein, was wir die moderne Literatur nennen. Joyce schrieb das Werk in einem Jahr, um das sein "Ulysses" noch Jahre später kreisen wird: 1904. Er schrieb es großenteils im kroatischen Pula, also aus einer Distanz zum irischen Schauplatz, die bei der Gestaltung half. Modern an dem Roman ist am Ende speziell ein entgrenzter, transzendierender Modus des Erlebens, zu dem der Protagonist im Angesicht des morgendlichen Meeres gelangt. Darin haben - unerwartet nach der zuvor erzählten Geschichte - sogar religiöse Empfindungen Platz.
Mit diesem Kontext liest sich Kandasamys Roman anders als ohne ihn. Die Exilerfahrung, das Kreisen um initiale Erlebnisse der Autobiografie wirken sich aus. Vor allem aber rettet das künstlerische Projekt Hoffnungen, die von der Gewalterfahrung sonst zerstört worden wären: auf die Liebe, womöglich auch auf Gesellschaftstransformation. Nichts anderes als die moderne Urerfahrung findet sich wieder bei Meena Kandasamy. Sylvia Staude hingegen staunt lieber, dass die Autorin noch an die Liebe glaubt, überschreibt ihren Artikel mit: "Das ist ihre Rache". Sicher ist es auch das. Aber Rache allein hätte gegen die schwarze Pädagogik gerade mal bis zum Anti-Struwwelpeter geführt. Nicht in ein epochales Projekt hinein, das mal Moderne hieß und bis heute wirkt.
Außer im Feuilleton?